Nachrichten über die Situation in der globalen Textil- und Bekleidungsindustrie erinnern an lange überwunden geglaubte Arbeitsbedingungen aus den Frühzeiten der industriellen Revolution im 18. und 19. Jahrhundert. Exzessive Arbeitszeiten, Hungerlöhne und (lebens)gefährliche Arbeitsplätze, Behinderung gewerkschaftlicher Organisierung bestimmen den Alltag von Millionen von Arbeiter*innen, zumeist Frauen. Mehr als 250 von ihnen verbrennen im September 2012 bei lebendigem Leib in der pakistanischen Fabrik Ali Enterprises, weil Ausgänge verschlossen und Fenster vergittert sind, weil Feuerlöscher fehlen – Hauptauftraggeber: das Unternehmen KiK aus Deutschland. Über tausend Arbeiter*innen sterben beim Einsturz der Fabrik Rana Plaza in Bangladesh am 24. April 2013, weit mehr werden schwer verletzt. Sie verlieren Arme, Beine, Hände und damit die Möglichkeit, weiterhin zu arbeiten. Während der Corona-Pandemie wälzten viele Unternehmen – auch deutsche – die Last auf die Schwächsten ab. Von Fabrikschließungen betroffenen Arbeiter*innen werden ausstehende Löhne und Entschädigungen in Milliardenhöhe vorenthalten.
Die meisten Unternehmen wollen von den günstigen Produktionsbedingungen profitieren. Sie sind die modernen Nomaden, sie gehen dahin, wo die fettesten Weiden zu finden sind, d.h. wo die Löhne am niedrigsten sind, die gewerkschaftliche Organisierung schwach, die Umweltauflagen gering und die Umsetzung der jeweiligen Arbeitsgesetzgebung mangelhaft. Das jüngste Beispiel ist die Verlagerung von Produktionsstätten nach Afrika, besonders nach Äthiopien. Dort sind Industrieparks für tausende von Arbeiter*innen entstanden, die Arbeiter*innen sind billiger als in Bangladesh.
Unternehmen profitieren von Hungerlöhnen
Dies konnte ich beim Besuch in einer dortigen Textilfabrik selbst sehen. Ich saß während einer ganzen Schicht neben einer Arbeiterin, die Ärmelsäume von T-Shirts für das deutsche Unternehmen KiK nähte. Für ihre Arbeit an einem T-Shirt brauchte sie ca. 50 Sekunden, d.h. während einer 8-stündigen Schicht schaffte sie 576 T-Shirts, in einem Monat sind es 14.400 Stück. Sie verdiente 55 Euro pro Monat, die T-Shirts wurden im Doppelpack für 5,99 Euro verkauft. Ihr Lohnanteil an einem T-shirt betrug demnach 0,38 Cent! Ein konkret durchgerechnetes Beispiel für die in dieser Industrie gezahlten Löhne. Es sind Hungerlöhne, von denen ein Mensch nicht würdig leben kann, geschweige denn eine Familie.
Im Blickpunkt ist meist die Konfektionierung, die Arbeit in den Nähfabriken. Doch vor diesem letzten Arbeitsschritt bei der Textilproduktion gibt es weitere, bei denen die Arbeiter*innen noch viel ungeschützter und verwundbarer sind. Deshalb ist es wichtig, die gesamte Wertschöpfungskette der textilen Produkte in den Blick zu nehmen: Baumwollanbau, Entkörnung, Spinnen, Weben, Veredelung (z.B. Färben). Bei all diesen Arbeitsschritten werden systematisch Menschen- und Arbeitsrechte verletzt.
Dabei bleibt der „informelle Sektor“ meist unbeachtet. Hier arbeiten Menschen ohne Vertrag, ohne soziale Absicherung z.B. in Heimarbeit. Ein Beispiel dafür ist die Praxis der deutschen Schuhfirma ARA. In Dörfern der Umgebung der firmeneigenen Fabrik in Indonesien nähen hunderte von Frauen mit der Hand das Oberleder auf die Sohle. Eine Studie, die von der Westfälischen Landeskirche in Auftrag gegeben wurde, zeigte, dass diese Frauen, die nach Stücklohn bezahlt werden, ca. ¼ des Lohnes der Arbeiterinnen in der ARA-Fabrik bekamen – wobei schon deren Lohn weit unter dem Existenzlohn liegt.
Klar, der Preis der Kleidung steht auf dem Etikett. Doch nicht nur wir, die Verbraucher*innen, bezahlen für unsere Hemden und Hosen, sondern viele Menschen, die an der Wertschöpfungskette von Textilien beteiligt sind. Sie zahlen einen hohen Preis, weil sie oft unmenschlichen Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind, gegen die sie sich nicht wehren können. Sie leben nicht nur in Bangladesh, Kambodscha oder El Salvador, sondern auch in EU-Ländern wie Bulgarien oder Rumänien. Dort kann der Unterschied zwischen dem gezahlten Lohn und einem existenzsichernden Lohn größer sein als in Asien. „Made in Europe“ ist also keine Garantie für menschenwürdige Arbeitsbedingungen.
Der gesetzliche Mindestlohn in Rumänien liegt bei 249 Euro im Monat, für einen existenzsichernden Lohn wären dort jedoch 1448 Euro nötig (Zahlen von 2018).
Auch deutsche Unternehmen lassen unter Bedingungen produzieren, die in unserem Land verboten wären!
Es gibt internationale Vereinbarungen
Wie kann all dies heute so sein, wo schon die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 feststellt: „Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf angemessene und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert“ (Art. 23). Wie kann das heute so sein, wo produzierende Länder oft gute Arbeitsgesetze haben und die entsprechenden Übereinkünfte der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ratifiziert sind? Wie kann das heute so sein, wo es seit den 70er Jahren OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen gibt, wo der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen im Jahr 2011 „Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte“ verabschiedet hat, die Staaten und Unternehmen zu menschenrechtlicher Sorgfalt verpflichten? Wie kann das heute so sein, wo die Vereinten Nationen sich erneut auf Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals) geeinigt haben, die auch menschenwürdige Arbeit sowie verantwortlichen Konsum und Produktion einschließen?
Es gibt viele Gründe. Die UNO ist hier ein zahnloser Tiger, denn ihre Beschlüsse zu Sozial- und Arbeitsrechten sind für die Mitgliedsländer nicht rechtsverbindlich. Hinzu kommt, dass viele Staaten sich um die Einhaltung ihrer Arbeitsgesetzgebung nicht kümmern, weil sie Standortnachteile befürchten. Nach dem Auslaufen des Welttextilabkommens Ende 2004 sind Produktion und Handel in diesem Bereich weiter liberalisiert worden, was zu einer verstärkten Konkurrenz zwischen Ländern geführt hat, die durch Sozial- und Lohndumping Investoren und Aufträge anlocken wollten. In den Regelungen der Welthandelsorganisation (WTO) sucht man Sozialstandards vergeblich.
Notwendig: Gesetzliche Regelungen zur Wahrung von Menschenrechten
Selbstverpflichtungen von Unternehmen oder freiwillige Initiativen wie das ‚Bündnis für nachhaltige Textilien‘ haben an den ausbeuterischen Strukturen in der Textilproduktion nichts geändert. Seit Jahren fordern deshalb zivilgesellschaftliche Organisationen gesetzliche Regelungen, die Unternehmen zur Einhaltung menschenrechtlicher Sorgfalt verpflichten. Deshalb ist es zu begrüßen, dass inzwischen ein Lieferkettengesetz verabschiedet wurde, das im nächsten Jahr in Kraft treten wird. Leider hat es erhebliche Schwächen, so wird nicht die gesamte Lieferkette erfasst, es werden nur Unternehmen mit mehr als 3000 Beschäftigen in den Blick genommen, eine zivilrechtliche Haftung der Unternehmen ist nicht vorgesehen. Es ist zu hoffen, dass eine europäische Gesetzgebung diese Lücken füllen wird.
Seit Jahren engagiert: Die Kampagne für Saubere Kleidung
Viele zivilgesellschaftliche Organisationen sind im Bereich „Unternehmensverantwortung“ aktiv, so auch die „Kampagne für Saubere Kleidung“ (CCC), ein internationales Netzwerk, in dem ca. 250 Menschenrechtsorganisationen, Frauenrechtsorganisationen, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und Verbraucher*innenverbände aus 45 Ländern zusammenarbeiten. Mitglieder der deutschen CCC sind zivilgesellschaftliche, gewerkschaftliche und kirchliche Organisationen und ehrenamtliche Regionalgruppen.
Ziel der Kampagnenarbeit ist es, die Arbeitsrechte in der globalen Bekleidungsindustrie zu verbessern. Dies geschieht durch Aktionen vielfältiger Art, durch Studien, die Arbeits- und Menschenrechtsverletzungen an die Öffentlichkeit bringen, durch Eilaktionen, die aktuelle „Fälle“ aufgreifen oder durch Auftritte auf Aktionärsversammlungen von Adidas & Co. So sollen Unternehmen dazu gedrängt werden, mehr Verantwortung für ihre globalen Wertschöpfungsketten zu übernehmen. Aktuelles Beispiel ist die internationale „Pay Your Workers“ – Kampagne, die die Zahlung von vorenthaltenen Löhnen und Entschädigungen während der Pandemie fordert. Gleichzeitig engagiert sich die Kampagne für ein wirksames Lieferkettengesetz.
Was kann ich tun?